Adonisröschen

Auszeichnungen

Verleihung des Bundesverdienstkreuzes im Juni 2005

„Prof. Barbara Kavemann hat ganz persönlich dazu beigetragen, dass sowohl der Schutz als auch die Rechte gewaltbetroffener Frauen und deren Kinder in unserer Gesellschaft deutlich verbessert werden konnten,“ betonte Senatorin Dr. Knake-Werner in ihrer Laudatio. „Gerade Berlin steht mit seinen besonderen Projekten und Initiativen schon seit Jahrzehnten im Kampf gegen Frauengewalt bundesweit beispielgebend da. Daran hat Frau Prof. Kavemann ganz persönlich großen Anteil. Ihre wissenschaftlichen Arbeiten zu Fragen der Gewalt gegen Frauen und zum sexuellen Missbrauch an Kindern reicht nun schon mehr als 25 Jahre zurück. Ihr kommt eine Vorreiterrolle darin zu, diese schwierigen Themen fachlich, politisch und wissenschaftlich immer offensiv zu vertreten und voranzubringen,“ so Senatorin Knake-Werner.

Verleihung des Berliner Frauenpreises am 8. März 2005

Laudatio von Prof. Dr. Carol Hagemann-White

Mit ihrem Frauenpreis ehrt die Stadt Berlin Frauen, die in herausragende Weise für die Emanzipation – schön, dass das Wort noch Verwendung findet – gewirkt haben. Bedanken sich Behörden für Aufruhr und Aufsässigkeit? Dafür, dass wir es wagen, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen? Wie steht es um das Verhältnis von Emanzipation, noch dazu der Geschlechter, also beider, oder sagen wir heute lieber aller möglichen Geschlechter, zu den verfestigten Strukturen, Einrichtungen, den institutionell verankerten Verhältnissen?

Es sind verschiedene Wege, auf denen Frauen wandeln, die in diesem Spannungsfeld etwas be-wirken. Es gibt Frauen, die von innen heraus die Institutionen in Bewegung setzen, die also den geordneten Weg einer Karriere gehen, nicht ohne die Anforderungen doppelt gut zu erfüllen, um schließlich am errungenen Platz im institutionellen Gefüge dann für Überraschungen zu sorgen. Es gibt Frauen, die erst auf Umwegen sich einen passenden Standort erschließen, von dem aus sie listig, balancierend emanzipatorische Impulse geben. Dann gibt es Frauen, die als Künstlerin frei von allen institutionellen Zwängen bleiben, um uns zum Denken, Lachen und Verändern zu provozieren.

Ganz außergewöhnlich ist aber eine Frau wie Barbara Kavemann, die es zustande gebracht hat und bringt, Institutionen von innen heraus zu bewegen, ohne selbst einen Stand innerhalb der Institution einzunehmen. Mit ihrem fachlichen und frauenpolitischen Engagement hat sie über mehr als 25 Jahre hinweg wesentlich zum Aufbau und zur Weiterentwicklung neuer Einrichtungen in freier Trägerschaft beigetragen – so z.B. das erste deutsche Frauenhaus für misshandelte Frauen in Berlin, die erste Wildwasser-Einrichtung mit Schutz und Hilfe für sexuell missbrauchte Mädchen, mehrere schulische Präventionsprojekte. Währenddessen hat sie die Vernetzung der vielfältigen Aktivitäten für Frauen und Mädchen in Berlin, meist locker „die Frauenszene“ genannt, gepflegt. Und das nicht nur ideell: So war sie z.B. Mitgründerin und längere Zeit im Vorstand von „Goldrausch“, eine Organisation, die sich um Kredite und Finanzberatung für eine breite Vielfalt eigenständiger Vorhaben von Frauen, nicht nur im Sozialbereich, verdient gemacht hat. In den vergangenen sieben (und mehr) Jahren war sie für die Stadt Berlin eine wichtige Kraft bei der Vernetzung und Kooperation, um neue Wege zur wirksamen Intervention gegen häusliche Gewalt anzubahnen und gangbar zu machen; sie hat das Modellprojekt „BIG“ schon von der Entstehung her und im Plenum der Frauenprojekte begleitet, noch bevor wir gemeinsam den Auftrag zur wissenschaftlichen Begleitung erhielten und sie ist auch heute noch beratend und aufklärend für diesen Ansatz engagiert.

Obwohl der Praxis sehr nahe und oft auch daran beteiligt, war Barbara jedoch nie nur „Projektfrau“ sondern vertrat in ihrer impulsgebenden und gestaltenden Tätigkeit immer die besondere Aufmerksamkeit und beratende Kompetenz, die sie als Wissenschaftlerin einbrachte. Zugleich schlug sie immer wieder die Brücke zu den staatlichen Institutionen und großen Wohlfahrtsverbänden mit deren Einbindung in die Verpflichtung eines Auftrages und in die Trägheit von Routinen und Regeln, gegen die sich oft Projekte kritisch richteten. In diesem Dialog festigte sich ihr Ruf als kritische und solidarische Begleiterin eines gesellschaftlichen Wandels im Umgang mit der alltäglichen Gewalt, die sich in unseren Familien, in unseren Beziehungen, unseren Kindergärten und Schulen einnistet.

Ich sagte, Barbara Kavemann habe als Wissenschaftlerin gewirkt. Die Wissenschaftssoziologie sagt uns, dass Wissenschaft ein soziales System ist, das sich selbst vor allem durch Reputation steuert, durch Publikationen in auserwählten, gewichtigen Medien, durch Präsentation, durch aufsteigende Positionen. Barbara Kavemann verkörpert hingegen Wissenschaft als eine Haltung: der geistigen und persönlichen Integrität, des zugleich liebenswürdigen und unnachgiebigen Denkens, und der steten Offenheit, die eigenen Annahmen ebenso wie die der anderen zu überprüfen. Hartmut von Hentig hat einmal geschrieben, Verstehen sei eine Erkenntnis, die die Gründe für das Erkannte weiß; zur Wissenschaft würde dies, „wenn man gemeinverständliche, nachvollziehbare und also überprüfbare Rechenschaft davon ablegt, wie diese Erkenntnis zustande gekommen ist.“

Am Maßstab der Gemeinverständlichkeit würden sich viele Wissenschaftler nicht messen lassen wollen. Doch gerade die Begleitforschungen, die Schriften, Vorträge und Workshops von Barbara Kavemann machen erfahrbar, dass hierbei weder die Genauigkeit der Methoden noch die Differenziertheit der Theorie leiden muss. Ohne Kompromisse in der Sache ist ihr Lebenswerk einer demokratischen Wissenschaftskultur verpflichtet, die gleichermaßen verstehen und verstanden werden will – hierbei sind Wissenschaft und Emanzipation untrennbar.

Ihr Werdegang ähnelt dem der freien Künstlerin. Dass sie im Jahre 1968 die Schule abgeschlossen hat, ließ vielleicht schon Unkonventionelles erahnen. Zunächst kam allerdings eine solide Ausbildung als Buchhändlerin, dann erst das Studium von Germanistik und Soziologie in Frankfurt und Berlin: die Nähe zu den sozialen Bewegungen der Zeit lag an diesen Orten auf der Hand.

Ihr Berufseinstieg bei der wissenschaftlichen Begleitung zum ersten Berliner Frauenhaus, und aus dieser Zeit kennen wir uns, fand schon in einem eigentümlichen Zwischenraum statt. Um dem hohen Ideal eines gleichberechtigten Kollektivs zu genügen, haben wir auf Anstellungsverhältnisse verzichtet und waren als Gesellschaft bürgerlichen Rechts alle gleichermaßen freiberufliche Vertragspartnerinnen der Bundesregierung. Eingebunden waren wir zudem in einem feministischen Projekt, das damals geglaubt hat, die patriarchale Gesellschaft zu erschüttern, indem wir Gewalt gegen Frauen sichtbar machen. Eine Arbeit in den Zwischenräumen war es aber damals auch deshalb, weil Barbara im „Kinderbereich“ im Frauenhaus gearbeitet hat, obwohl das Frauenhaus „eigentlich“ für die Frauen da war. Im Zwischenraum befand sie sich auch, weil wir zwar längere Zeit voll in der Praxis eingesetzt wurden, jedoch „eigentlich“ für eine unabhängige wissenschaftliche Begleitung vorgesehen waren. Im auftraggebenden Ministerium hatte man sich damit heimlich abgefunden, so erfuhr ich später, dass daraus nie ein Bericht entstehen würde. Tatsächlich haben wir zu siebt etwa 1000 Seiten abgeliefert. Barbara Kavemann war es, die ein halbes Jahr später mit mir zusammen den Mammutbericht auf Buchlänge zusammengestrichen und zur erfolgreichen Publikation gebracht hat. (Das Buch musste übrigens immer neu aufgelegt werden.) Hierbei durfte ich jene geduldige Beharrlichkeit kennen lernen, mit der sie seither immer wieder ein begonnenes Projekt zu einem guten Ende führt, wobei sie die auftretenden Schwierigkeiten und Konflikte entdramatisiert und unaufgeregt tut, was dazu nötig ist, damit es in der Sache vorangeht.

Es gibt so etwas wie „verdichtete“ Zeiten, in denen viel mehr geschieht als es der Gesellschaft möglich ist zeitgleich zu erfassen und zu verstehen. Zusammen mit der Aufdeckung der Formen, Ausmaße und Zusammenhänge von Frauenmisshandlung wurden damals in der Praxis die Betroffenheit der Mädchen und Jungen gesehen, es wurden praktische Ansätze entwickelt ihnen bei der Bewältigung zu helfen, wichtige Erkenntnisse wurden sogar in der Begleitforschung niedergeschrieben, und doch hat es fast zwanzig Jahre gedauert, bis es zu einer öffentlichen Diskussion darüber kam. Barbara Kavemann hat hierbei eine herausragende, eine besondere Rolle wahrgenommen, und dies nicht nur in Berlin. Die Erkenntnis, dass Gewalt im Geschlechterverhältnis auch Gewalt im Verhältnis der Generationen einschließt und wiederum von dieser gefördert wird, hat sie in besonderem Maße bewahrt, getragen und weiterbewegt, bis die Institutionen dafür bereit waren.

Barbara Kavemann hatte noch nie einen festen Ort in einer Institution. Sie ist der Freiberuflichkeit und dem Arbeiten in Projektzusammenhängen treu geblieben, über einen langen Zeitraum, in dem die Illusionen der „Frauenprojektebewegung“ allmählich zerstoben und die meisten sich darauf besannen, beruflich ein festes Haus zu beziehen. In dieser Standortfreiheit hat sie die Möglichkeit wahrgenommen, Erkenntnisse aus der verdichteten Zeit weiter wachsen zu lassen, damit sie nicht durch die jeweils aktuell vorrangigen Sorgen und Aufmerksamkeiten der Institutionen überwuchert und zugedeckt werden. So ist ihr beruflicher Weg paradoxer Weise von großer Kontinuität gekennzeichnet. Hat sie die Bedeutung eines Themas für das Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft erfasst, so lässt sie das Thema nicht los, und findet immer neue Ansatzpunkte dafür, daran weiterzuarbeiten.

Dabei war es nie ihre Sache, den allein richtigen Standpunkt zu beziehen und die Kontroverse als Bestätigung zu suchen, obwohl gerade die Themen Sexualität und Gewalt leicht dazu verführen. Ihr Anliegen war es vielmehr, Verhältnisse zu verändern, in denen Kinder schutzlos der Gewalt von Erwachsenen ausgeliefert sind, und in denen Mädchen mit spezifisch eingeengten Möglichkeiten heranwachsen. Dabei hat sie die Akteure – Projekte wie Institutionen – Stufe um Stufe dazu angeregt und gedrängt, ihr Problemverständnis zu erweitern, sich, wie sie es in unserer Begleitforschung zu den Interventionsprojekten formuliert hat, als lernende Systeme zu begreifen. Währenddessen hat sie, und dies macht einen großen Teil ihrer Wirkungskraft und Ausstrahlung aus, eine große Sensibilität für die Innensicht der Institutionen kultiviert. Die Menschen, die im Gestrüpp der alltäglichen Zwänge, Normen und Verhaltensregeln der Schule, der Jugendämter, der Behörden und Ministerien, der sozialen Arbeit, der Psychotherapie, der Polizei und der Justiz zurecht kommen müssen, und die dennoch guten Willens sind, dem Problem der Gewalt in allen Formen und Ausgestaltungen konstruktiv zu begegnen, erleben Barbara Kavemann als Verbündete und als Hilfe zur Selbstverständigung und Weiterentwicklung; sie sprechen dankbar darüber, dass sie da war und mit ihnen über ihre Probleme, die sie in der Praxis haben, gesprochen hat. Und das ist ein Phänomen. Denn alle Institutionen kennen die Abwehr gegen die WissenschaftlerInnen, die oft als ahnungslose Außenseiter mit wirklichkeitsfremden Vorschlägen gelten. Ausgerechnet Barbara Kavemann, die noch nie in einer der beruflichen Positionen tätig war, die man (wie es meist heißt) inne gehabt haben muss, um zu wissen, was wirklich läuft, wird als eine Ressource und eine Unterstützung zur Verbesserung der Praxis wahrgenommen – als hätte sie jahrelang innerhalb der jeweiligen Institution gearbeitet und würde zur Berufsgruppe dazugehören.

Dies liegt teilweise an dem völligen Fehlen der Selbstinszenierung und der fast greifbaren Achtung, die sie in jedem Handlungsfeld die praktisch Tätigen spüren lässt, so lange diese wiederum den Willen zur Überwindung von Gewalt zeigen. Auch kleinsten Schritten voran schenkt sie Anerkennung, und misst sie nicht an einem abstrakten Anspruch sondern am konkreten Ausgangspunkt dessen, der diese Schritte unternimmt. Es liegt aber wohl auch daran, dass ihre eigene Bearbeitung der Probleme an den bisherigen Erfahrungen anknüpft, so dass das Neue vom vertrauten Boden aus zu erkunden ist. In diesem Sinne kann man die Stationen ihres eigenen Weges sehen. Vom Frauenhaus aus, wo sie im „Kinderbereich“ arbeitete und den Parteilichkeitskonflikt erlebte, ging sie zur vertieften Auseinandersetzung mit dem sexuellen Missbrauch von Mädchen weiter, zum Verein „Wildwasser e.V.“ und zur Schaffung von Einrichtungen von Schutz und Hilfe für betroffene Mädchen. Im Anschluss an ihre wissenschaftliche Begleitung dieser Praxis unternahm sie eine vertiefte und kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept der „Parteilichkeit“. Von der Hilfe aus drängte es sie weiter, Konzepte der Prävention in Zusammenarbeit mit Schulen zu entwickeln, umzusetzen und zu evaluieren. Dann ging es mit dem Aufbau des Bundesvereins Prävention weiter, und in diesem Rahmen darum, erneut die Blickrichtung zu ändern, von den Mädchen, die sich wehren sollen, zu den Erwachsenen, die in der Verantwortung sind; und noch einmal von den Frauen als quintessentiellen Opfern zu Frauen als auch Täterinnen. Parallel hierzu erweiterte sie ihr Handlungsfeld auf europäische Vernetzungen, zunächst der Prävention, dann zum transnationalen Projekt „Mädchen für ein ökologisches Europa“. Schließlich war sie in den letzten Jahren ein engagiertes und solidarisches Beiratsmitglied zum Pilotprojekt „Gewalt gegen Männer“ in der selbstverständlichen Einschätzung, dass jedes Gewaltopfer Gehör verdient.

Zu diesem Weg der kontinuierlichen Erweiterung und kritischen Überprüfung passte ihr großes und weit gestreutes Engagement in der Fort- und Weiterbildung, auch dies sicher ein Grund dafür, dass Barbara Kavemann der Sicht derjenigen, die in den Institutionen arbeiten, einfühlsam zu folgen, und ihnen zugleich weiter gesteckte Perspektiven aufzuzeigen vermag. Es war also nur ein stimmiger weiterer Schritt, als sie 1997 die Schlüsselrolle in der wissenschaftlichen Begleitung der damals modellhaft in Berlin erprobten Interventionsprojekte gegen häusliche Gewalt übernahm. Kooperation, die tragende Grundlage dieser Projekte, ist – wenn ich eine solche These wagen darf – auch ihr Lebensthema. So konnte sie komplexen Kooperationsprozesse nicht nur beobachten und analysieren, sondern mit feinem Gespür begleiten und fördern, und in sorgfältig geplanten Rückkopplungsschleifen den Beteiligten ihre eigene Leistung fassbar machen und als Ressource zurückschenken. Nebenbei, dies möchte ich nicht unerwähnt lassen, hat sie ein wissenschaftliches Team von zuletzt sechs MitarbeiterInnen stets neu motiviert, über Blockaden und Konflikte hinweg zusammengehalten und zu reichhaltigen Ergebnissen und gelungenen Berichten geführt. Bei aller Fähigkeit zu delegieren und aller Bereitschaft, dem Eigenbeitrag von anderen wertschätzend zu unterstützen, war sie das ruhende Zentrum dieses Unternehmens.

Es ist in hohem Maße der Verdienst von Barbara Kavemann, dass die Stadt Berlin inzwischen europaweit als Vorbild für ein konstruktives gemeinsames Vorgehen gegen Gewalt gilt; sie war es, die am Ende der Begleitforschung Elemente guter Praxis so ausformuliert hat, dass sie im In- und Ausland als Grundlage weiterer Arbeit genutzt werden können. Allem voran hat sie aber in besonderem Maße dazu beigetragen, dass das Ziel der Überwindung von Gewalt im Alltag nicht mehr als „Frauenthema“ sondern als Kern und Angelpunkt der Emanzipation der Geschlechter begriffen wird. Dafür wird ihr zu Recht heute Abend der Berliner Frauenpreis verliehen.